Der Ermordete hat Schuld

„Liebe Leute“, sagte Alexander zu seinen Lieben, „es ist mal wieder soweit für mich: Nachher ist Konferenz." Alexander, mein engster Freund, beruft immer dann eine Familienkonferenz ein, wenn Ernstes anliegt, das alle betrifft. Das Recht zur Einberufung hat jeder in der Familie. Wenn Alexander einberuft, geht es (fast) immer um dasselbe: Um Ordnung, sagt Alexander. Die Familie sagt: Um Alexanders übermäßig zwanghafte Züge gehe es. Konferenzanlässe sind: Wenn die Schultaschen der Kinder noch am Abend im Flur, herumliegen oder das Fahrrad draußen nachts einsam rostet oder nichtgegessene Schulbrote im Abfall verschwinden statt abends gegessen zu werden oder Lebensmittel im Eisschrank hinten vergammeln oder ungefragt Briefmarken aus der Portomappe verschwinden oder überhaupt Benutztes, Geliehenes nicht wieder an seinen Ort zurückkehrt: Dann ruft Alexander die Konferenz für sich und seine Angst vor dem Chaos ein. Das Ergebnis ist ebenso: Schuld hat letztlich immer der Ermordete bzw. Alexander. Alexander ist dann so eindrucksvoll in seinen Argumenten und Beschwernissen, daß sich alle zitternd von dannen schleichen, Besserung gelobend. Nur - wer kann sich im zitternden Zustand und mit Schuldgefühlen beladen anständiger benehmen als vorher? Und so kommt es, daß in den Stunden nach einer Familienkonferenz noch mehr benutzte Gegenstände herumliegen als vorher, daß nichtaufgefüllte Zucker- und Salztöpfe auf den Tisch gedeckt werden, daß noch mehr Licht nachts brennen bleibt und Heizungen aufgedreht ihre einsamen menschenleeren Stunden verbringen. Das Ende vom Lied, das in der Nachkonferenz gesungen wird: Alexander tröstet die Aufgeregten darüber, daß ihnen schon wieder dies und jenes passierte. Sagt, daß dies doch nicht so schlimm und jenes ja mal passieren könne (nur entspannt und in Liebe funktioniert schließlich Erziehung) und er doch kein Ordnungsfanatiker sei. Nur Liebhaber. Seiner Lieben und der lieben Ordnung. Alexanders Schulhausmeister hat den Bogen raus: Sowie dieser Hausmeister von irgendwem eine mehrfache Bitte oder gar Kritik oder gar Rüge hört, schlägt er die Hände zusammen und klagt: O dieser Stress, nein dieser Stress! Und aus Stress heraus mache ich doch erst recht Fehler!" Und er klagt solange, bis sein Gegenüber ihn beruhigt. So schlimm sei es schließlich nicht. Als dieser (saisonal cholerische) Hausmeister einen von Alexanders Schulkollegen in dessen nagelneuem Auto anfuhr und dem Auto und der Autofahrerseele eine lange hässliche Schramme zufügte (der Kollege war „im Recht") - da stieg dieser Kollege von Alexander eilends aus und sagte zu dem anfahrenden Hausmeister: „Nun machen Sie sich keine Sorgen - das ist gar kein Problem. Das besorge ich schon, das macht gar nichts. Entschuldigen Sie bitte." Alexander versucht umsonst von solchen Menschen zu lernen.

24. September 1996